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Dienstag, November 19, 2013

Surreales Leben

Wieder so eine inhaltsschwere Überschrift. Aber wer anderes lesen will, kann ja das englische (View-) Blog in der Linkleiste lesen, wo in jedem Posting Präsident Ma an allem schuld ist. Oder er sucht sich irgendein Happy-Peppy-Tempelblog. 

Es fällt mir schon seit langem auf, mein Dasein hier in Taiwan erzeugt in mir nicht das Gefühl, normaler Alltag zu sein. Ich gehe sogar soweit zu sagen, es fühlt sich nicht mal wie "richtiges Leben" an. Anderen geht das auch so; im Ausländerforum wird immer wieder das "real life" vom Taiwanleben abgegrenzt. Etwa so: "How is it back in real life?" als Frage an jemanden, der wieder in den USA ist (sind halt fast alles erweiterte Angelsachsen da) oder die öfter mal vorkommende Formulierung "in real life things are...". Im "richtigen Leben" sind die Dinge so, in Taiwan aber anders. Unbewusst hänge ich auch "Taiwan" als Prefix an fast alles dran, um es von richtigen Dingen abzugrenzen. Mein Taiwanjob, meine Taiwanfamilie. Dinge sind auch "taiwanschön", nicht richtig schön, aber im Kontext von Taiwan eben schön. Etwa ein nach Abgasen riechender Strand mit Hauptstraße. Anderseits hat jedes Land seinen eigenen sozialen Kontext, in so fern bekommen Begriffe andere Ausprägungen, so ganz unrichtig ist das halt nicht.

Laut Schild ein Hotel, mitten zwischen den Schlichtwohnblocks in Wolkenform. Aber für mehr als den Empfangstresen ist kein Platz. Taipei, NeiHu. Na ja, was man eben so hinpinselt in ein surrealistisches Gemälde***

Der gänzlich wolkenlose Rest der Straße

Aber warum empfindet man das Leben selbst als irreal? Nun, für den Englischlehrer kann ich es mir vorstellen. Daheim vielleicht ein Underdog, etwa ein Verkäufer in einem kleinen Laden. Gerade so in der Gesellschaft also. Hier in Taiwan dann etwas ganz besonderes, angehimmelt auf der Straße (ein Phänomen das über die Jahre weniger geworden ist), bestaunt von jungen Frauen im Minirock, die ihn daheim nicht mal peripher angucken wollen. Hier erröten und kichern sie in seiner Gegenwart. Am Ende hat der Normalo oder Underdog dann plötzlich wechselnde bildschöne Freundinnen, angehimmeltermaßen wie ein Latino-Beau mit Body-Building-Körper. Dazu graue Baracken wie im Slum, in denen man lebt, nagelneue silberne Toyatas davor geparkt, viel Alkohol und Angst vor Polizeirazzien, weil die Arbeitspapiere möglicherweise nicht in Ordnung sind. Sicher ein Mix, den man als irreal - oder eben surreal - empfindet, gemessen an den heimatlichen Maßstäben. Man wird von den Taiwanern entweder geliebt oder verachtet, auch das fühlt sich übernatürlich (eben surreal) an.

 Exotische Leckereien im Mopedqualm in der 737-Lane in NeiHu, Taipei

Bei mir verheiratet und nichtenglischlehrend alles etwas anders. Die Minirockmädels nur als Flirten dann und wann, angehimmelt manchmal von Herren wie Damen in taiwantypischer Manier, dann wieder etwa im heimatlichem Schlichtwohnviertel im Vorbeigehen beschimpft als komischer Ausländer, in der Firma mal geschätzter Experte, dann wieder Kicherobjekt für neues Küchenpersonal oder neue Kollegen. In den eigenen vier Wänden bisweilen nicht die Normalität, sondern der exotische Fremde, weil mit "Taiwanfamilie" versehen, statt mit Familie. Die eigene Wohnung auch nur ein temporärer Ort zum Schlafen, zwischen ratternden Mopeds, trötenden Straßenhändlern und dem nächsten Auszugstermin, weil der Vermieter durch Wohnungsverkauf reich werden will, der Taiwanimmobilienblase sei Dank.

 "Mousekersize" heißt das in der Mickymaus-Klubhaus-Serie, die ich immer mit Junior gucke (Plakat in der Tiefgarage)

Alles keine Beschwerde, an wen den auch, sondern nur eine Notiz, dass der Gesamtmix sich irreal anfühlt oder eben surreal, wie ein zur Karikatur entstelltes Leben, in dem alles über- oder unterbetont ist, bis es wie ein surrealistisches Zerrbild der Realität wirkt. Weil es auch in sich nicht konsistent wirkt, das Leben hier und die Reflexionen aus der Gesellschaft, die man bekommt. Nicht das richtige Leben, ein Taiwan(expat)leben.

*** Eben aufgefallen: Man sieht deutlich einen Bauzaun in der Straße. Da haben sie also schon wieder Schlichthäuser aus dem Viertel weggerissen. Ich denke, es handelt sich bei der "Wolke" um einen Verkaufspavilion für Eigentumswohnungen. Der Begriff Hotel ist wahrscheinlich zusammen mit chinesischen Schriftzeichen (Schild nicht im Bild) sinnverändert verwandt worden. So wie sie Hochhäuser auch oft als Villa bezeichnen.




6 Kommentare:

Xinxi hat gesagt…

Wenn es hier nicht so super ist, wie wäre dann ein Umzug z.B. nach Hong Kong oder Singapur? Oder nach Australien, wo Ostasiaten in vielen Stadtteilen auch schon gefühlte 40%+ ausmachen. Als Computerexperte hast du doch Möglichkeiten, von denen andere Normalexpats, z.B. ich als Übersetzer, nur träumen können. Von wegen sicherer und einkommensstarker Job wo immer du hingehst.

Karl hat gesagt…


Wahrscheinlich sehen viele das Leben hier als "Surreal" an weil man oft doch nur für begrenzte Zeit hier ist. Am Anfang meine Zeit in Taiwan empfand ich mich eher als Beobachter, man lebte zwar hier aber irgendwie war man gefühlsmäßig zu Besuch.

Und was das von Mädchen in Miniröcken angesprochen werden betrifft - Da bin ich eher in der "Aufpassen ansonsten ist Frau sauer"
Phase

Tamasü hat gesagt…

Die Englischlehrerschaft glaubt auch fest, daß sich unter ihnen viele junge gutaussehende befinden.
Ist das jetzt surreal oder irreal?

"Ludigel" hat gesagt…

Wir brauchen sofort meinen Kunstlehrer. Herr Dippel, bitte melden Sie sich. Unergessen sein Surrealismuskurs. Jau, das deutsche Gymnasium. In Taiwan haben sie stattdessen bestimmt einen Buchhaltungskurs oder so.

"Ludigel" hat gesagt…

Nicht unergessen, sondern unvergessen, der Kunstunterricht. Ungegessen war er sicher auch, unausgegoren nie.

"Ludigel" hat gesagt…

Jau, so ein Museumsbesuch wäre auch mal nett. Welche Vorurteile? Das Taiwaner nur als Geldverdienen denken ;-) Ja OK, mein Umfeld ist da sicher nicht das einzige, was man in Taiwan trifft.